In diesem Beitrag

Alte Weisheiten leben länger. Was einmal in der Welt ist braucht Zeit um vollständig widerlegt und akzeptiert zu werden. So der Mythos Rennradreifen müssen schmal und hart wie nur möglich sein. Gleich zwei falsche Wahrheiten. Die wir hier und jetzt aus der Welt räumen wollen. Mit vielen Studien und Tests aus Magazinen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Im ersten Teil zum Mythos Rennradreifen widmen wir uns der Reifengröße.

Denn es ist schon knapp 13 Jahre her, dass die Studien am Selbstversuch von Jan Heine vom Magazin Bicycle Quarterly (US, Seattle) veröffentlicht wurden. Auch schon 2016 hatte das ROADBike Magazin in der Ausgabe 11-2016 bemerkt:

Die Messergebnisse belegen eindeutig: Breite Reifen rollen besser!

ROADBike Magazin 11-2016

Stahlrollen-Tests sind von Vorgestern

Eindeutige Tests für Reifen sind schwierig. Laborbedingungen sind nicht immer übertragbar auf die echte Welt „da draußen“. Schon immer galt dies besonders verschärft bei Reifen-Effizienztests auf der Stahlrolle. Dabei wird ein Reifen in einem Labortest auf eine Felge gezogen und über eine Stahltrommel abgerollt.

Vorteile dieses Labortests sind:

  • vergleichbarer und wiederholbarer Test nach wissenschaftlichen Prinzipien
  • exakte Messung der aufgewendeten Kraft
  • Kraftübertragung und Verluste können exakt auf den Reifen zurückgeführt werden, da keine „Seiteneffekte“ zu berücksichtigen sind (Reduktion aufs Wesentliche)

Entsprechend galten diese Tests lange Zeit als Messlatte. Die Industrie hatte verlässliche Zahlen, Magazine konnten unvoreingenommen und objektive Ergebnisse berichten und wir Endverbraucher hatten Klarheit. Doch das alles hat seinen Preis.

Diese Ergebnisse sind kaum auf die echte Welt übertragbar.

Wir fahren mit den Reifen nicht über Stahltrommeln… die Fahrradwege sind mitunter in katastrophalen Zuständen. Aber auch gut und frisch asphaltierte Wege sind nicht perfekt. Um annähernd gleiche Ergebnisse zwischen Asphalt und Stahltrommel nachzustellen. Gleichzeitig kann man in der echten Welt kaum die Effekte der Reifen abstrahieren. Immer wird der Wind, der Fahrer, kleinere Lenkbewegungen, usw. einen objektiven und zuverlässigen Test unmöglich machen. Ein Dilemma.

Das Unmessbare messbar machen

Alle Störfaktoren, die einen Test nach wissenschaftlichen Prinzipien schwierig machen, gilt es zu eliminieren. Diese Aufgabe hatte sich der Herausgeber des Magazins „Bicycle Quarterly“ Jan Heine gemacht. Es muss doch möglich sein annähernd vergleichbare und wiederholbare Bedingungen herzustellen. In der echten Welt. Außerhalb des Labors, dabei den wissenschaftlichen Prinzipien treu.

So machte er sich mit seinem Team auf und startete erste Versuchsreihen 2007. Dabei wurde auch aufs kleinste Detail geachtet. Beispielsweise darf der Test nicht durch wechselnden oder böigen Wind beeinflusst werden. Dies wurde vermieden, in dem man windstille Zeiträume nutzte und die Tests beispielsweise um 05:00 Uhr morgens vornahm, ein Zeitpunkt mit geringster Windbewegung. Andere Faktoren wurden ebenfalls eliminiert, zB. durch einen Wattmesser die genaue eingesetzte Kraft des Fahrers erfasst. Um den Einfluss des Fahrers genauer unter Kontrolle zu haben.

Laut eigener Aussage sind die entstandenen Daten signifikant. Und würden auch wissenschaftlichen Prinzipien der Wiederholbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Transparenz, etc. genügen. Es bleiben zwar Feldversuche, aber es ist sehr wohl plausibel, dass es sich hier nicht einfach nur um „Grundrauschen“ sondern echte Fakten handelt. Die zur Abwechslung mal aus der realen Welt kommen.

Gründe für die besseren Rolleigenschaften breiter Reifen

Verschiedene Tests und Studien kommen zu unterschiedlichen Begründungen, weshalb ein breiterer Reifen überhaupt schneller rollt. Man sieht die Testergebnisse vor sich und muss sich nun eine Geschichte dazu überlegen. Und da kommen verschiedenste Ideen ins Spiel. Diese können in zwei „Lager“ gruppiert werden, aber dazu kommen wir gleich.

Das Walken eines Reifens

Ein möglicher Aspekt ist, dass Reifen „walken“. Bedeutet sie verformen sich unter der Last des Gewichts und haben eine Auflagefläche. Dieser „Contact-Patch“ kann eher rund, oval oder ganz lang gezogen sein. Breite Reifen mit niedrigerem Luftdruck haben eine eher runde Auflagefläche. Dadurch walkt der Reifen weniger, er verformt sich nicht der Länge nach sondern verteilt die Verformung auf eine breitere Fläche.

Dies ist eine Theorie, wie sie häufig in Magazinen zu lesen ist, beispielsweise im Test der RoadBIKE 2016-04.

Verformungsverluste

Neben der Beschreibung zum Walken des Reifens gibt es eine ähnliche Begründung. Die auf Energieverluste durch Verformung zurückgeführt werden. Gemeint ist die Energie, welche den Reifen am Kontaktpunkt zur Straße verformen lässt. Quetscht man einen Tennisball in der Hand, dann kann man sich ungefähr vorstellen, welche Kräfte für die Verformung notwendig sind. Eine ähnliche Kraft verformt auch den Reifen. Der Ursprung dieser Energie ist der Fahrer, der permanent den Reifen rotieren lässt und dadurch für eine durchgehende Verformung sorgt. Beim Abrollen des Reifens.

Nun kann man diese Kraftverluste (vor allem Hitze bei der Verformung) auf zwei Arten minimieren. Entweder durch hart aufgepumpte und schmale Reifen. Oder eine möglichst weiche Karkasse, welche leicht zu verformen ist. Schmale Reifen mit einer weichen Karkasse stehen aber im Widerspruch. Denn desto schmaler der Reifen desto höher muss der Luftdruck sein, da ein kleiner Reifen kaum Federweg hat und es schnell zur Felgenberührung kommen kann. Und ein schmaler Reifen schneller kollabieren könnte.

Im Ergebnis führten beide Effekte zur Verformung (Walken und generelle Verformung), dass man diese einfach vermieden hat. Durch harte Reifen (keine geschmeidige sondern steife Karkasse) die mit hohem Luftdruck aufgepumpt wurden. Die Folge kennen alle Rennradfahrer. Doch es gab weitere Effekte, die sehr lange nicht beachtet wurden.

Rückfederung

Eine andere Theorie, zur besseren Performance breiter Reifen, benennt eine weitere Kraft, welche bei breiten Reifen zu besseren Abrolleigenschaften beitragen soll. Auch hier gibt es praktisch zwei Beschreibungen, die auf scheinbar den gleichen Effekt zurückzuführen sind.

Bei der Theorie zur Rückfederung geht um den Aufprallwinkel des Reifens auf Unebenheiten. Ähnlich wie bei einem toppsenden Ball gilt: Eingangswinkel = Ausgangswinkel. Wie im Reflexionsprinzip beschrieben. Jedoch sind diese Theorien nur bedingt auf Fahrradreifen übertragbar.

Das generelle Reflexionsprinzip gilt allgemein für Licht. Aber auch ein Ball prallt ähnlich auf und wird zurückgefedert. Bei Fahrradreifen kann man dies zum Teil auch übertragen. Selbst für kleinere Unebenheiten. Rollt der Reifen über einen kleinen Stein, so wirkt immer zumindest auch eine kleine Kraft entgegen der Fahrtrichtung und der Reifen muss dieses kleine Hindernis auch mit etwas Kraftverlust überwinden. Für Risse, Schlaglöcher oder Bordsteine gilt diese Regel noch extremer. Da man hier das Abprallen sogar mit dem Auge beobachten könnte.

Reifen reagieren auf Unebenheiten. Dabei kehren sich die Kräfte um. Im Bild entsprechend sehr plakativ dargestellt.

Wenn man einen Reifen mit Laufrad gegen eine Bordsteinkante wirft, dann toppst dieser zurück. Das kann man sich gut vorstellen und beobachten. Aber auch bei sehr kleinen Unebenheiten passiert dieser Effekt, wenn auch nur mit deutlich geringerer Wirkung. Dafür aber sehr häufig, da wir in der Regel auf nicht perfekten Wegen unterwegs sind. Denn selbst ein schöner neuer Asphalt ist nicht perfekt glatt. Optimal wäre ein Untergrund wie bei Bahnrad-Rennen. Ein polierter Parkettboden.

Wie tangiert diese Theorie nun dicke Reifen? Es kommen zwei Eigenschaften zusammen: Luftdruck und Reifengröße. Generell werden breitere Reifen mit niedrigerem Luftdruck gefahren, und schlucken Unebenheiten besser weg. Gleichzeitig haben breitere Reifen eine größere Fläche um kleinere Unebenheiten auszugleichen.

Diese Theorie wird auch im Podcast von CyclingTips im Gespräch mit Jan-Niklas Jünger von Continental besprochen. Jan ist Produktmanager bei Continental und beschreibt einige Punkte, die für breitere Reifen mit besserer Performance sprechen: CyclingTips NerdAlert Podcast 04-2020.

Continental entwickelt ihre Produkte also entsprechend solcher theoretischer Erkenntnisse „aus der Szene“. Es ist spannend zu beobachten welchen Weg sich Innovation bahnt.

Federungsverluste

In den Tests der Bicycle Quarterly geht man noch verstärkt auf die Federung und damit zusammenhängender Energieverluste ein. Hier wird das Bild wie folgt gezeichnet.

Alle Energie, welche den Fahrer zum „vibrieren“ bringt, zB. wenn man über Schotter oder Unebenheiten fährt, kommt nicht von Irgendwoher. Sondern entsteht erst durch den Vortrieb des Fahrers. Der in die Pedale tritt um sich möglichst effizient nach Vorne zu bewegen. Jedoch wird dabei ein Teil der Masse eben in eine andere Richtung als die gewünscht „abgelenkt“ oder eben gefedert.

Die Begründung und der beschriebene Effekt bleiben aber gleich. Es entsteht in jedem Fall ein Verlust an Energie. Sinngemäß „verloren“ da sie nicht mehr dem Vortrieb dient sondern in Wärme oder Reibung umgewandelt wird und mir als Radfahrer nicht weiterhilft. Im Weiteren ist immer unter „Energieverlust“ also damit gemeint, dass Energie nicht effizient für den Vortrieb eingesetzt wird und somit als verloren gilt.

Feldstudien und Labortests

Die größte Pioniersleistung der Breite-Reifen-Bewegung ist Jan Heine und dem Bicycle Quarterly Magazin zu verdanken. In der Ausgabe 58 (2016) wurde eine weitere Feldstudie veröffentlicht, aus der die oben zitierten Daten übernommen wurden. Hier wurden drei Varianten eines Michelin Rennradreifens untersucht. Ergebnis: Der breitere Reifen läuft signifikant besser. Neben dieser Erkenntnis hatte man jedoch auch deutlich breitere Reifen untersucht (bis zu 52mm Breite, also praktisch Mountainbike-Reifen).

Fazit: „Above 25 mm and at least up to a width of 52 mm, the width of your tires will not significantly change your bike’s speed.“

Bicycle quarterly No. 58 (2016)

Heben sich hier verschiedene Effekte auf, die zu diesem Ergebnis kommen? Dazu gleich in der Zusammenfassung mehr.

Zu praktisch identischen Ergebnissen aber einem ganz anderen Messverfahren kommt auch das RoadBIKE Magazin. Hier wurden die Reifen über eine Stahltrommel abgerollt. Stellvertretend wurde der Conti GP 4000 S II für Rennradreifen in der „Breitenstudie“ herangezogen.

RoadBIKE Magazin – 11-2016

Zusammengefasst

Es ergeben sich zwei gegensätzlich wirkende Ursachen, die mit der Reifenbreite und dem Reifendruck zusammenhängen:

  • Verformungsverluste: Dazu zählen wir die Theorien zum „Walken“ des Reifens als auch der generellen Beschreibung zu den Verformungsverlusten und fassen beides unter diesen Namen zusammen. Lange Zeit wurden ausschließlich diese Effekte als signifikant angesehen, andere Effekte wurden nicht quantifiziert (weil im Labor bzw. auf der Stahltrommel nicht abbildbar).
  • Federungsverluste: Effekte durch die Rückfederung, welche einen Impuls entgegen der Fahrtrichtung aussenden. Die durch den Fahrer und eine Federung im Material kompensiert werden können. Dieser Effekt wird erst seit kurzem als Argument in der Diskussion zur optimalen Reifenbreite geführt.

Diese beiden Effekte haben eine Wechselwirkung. Ein hart aufgepumpter Reifen verformt sich nicht aber hat stark federnde Eigenschaften. Man kann also nicht beides haben: einen Reifen der sich nicht verformt und gleichzeitig Unebenheiten schluckt.

Betrachtet man ausschließlich die Verformungsverluste, so kommt man zu dem Schluss dass ein Reifen extrem hart aufgepumpt sein muss. Was bis heute praktisch als Maxime für Rennradfahrer gilt. Und damit automatisch optimal rollt. Jedoch gilt dies nur so lange, wie keine Federungsverluste zu verzeichnen sind. Also auf perfektem Untergrund (oder ebene eine Stahltrommel). In der Realität wird man jedoch immer mit Federungsverlusten rechnen müssen, welche vom Untergrund abhängen.

Grob lassen sich die beiden Effekte und ihre Beziehung skizzieren:
(dies ist bitte nur als Skizze zu verstehen – um die Idee zu vermitteln)

Beide Effekte und deren Ausprägung (Energieverluste) hängen stark von der Umwelt ab: Gewicht des Gesamtsystems aus Fahrer und Rad, Materialeigenschaften, Geschwindigkeit als auch dem Untergrund. Eine universelle Aussage zum optimalen Mittelpunkt mit perfekter Effizienz ist nicht pauschal möglich.

Die Gesamtverluste an Energie (in Watt), welche sich nicht auf den Vortrieb des Rads sondern in Wärme oder sonstige Reibung oder Bewegung entfalten, ergeben sich als Summe aus beiden Effekten.

Verlorene Energie“ = Federungsverluste + Verformungsverluste

Hart aufgepumpte Reifen haben kaum Verformungsverluste. Aber umso höhere Federungsverluste. Umgekehrt kann man keinen Reifen unendlich groß machen ohne dass die Verformungsverluste drastisch steigen.

Beide Effekte sind jedoch stark von der Umweltsituation geprägt: Fahrer- und Systemgewicht, Untergrund und Bauart des Reifens (Härte / Nachgiebigkeit des Reifens).

Man kann also generell Zusammenfassen:

  • die beiden beschriebenen Effekte heben sich gegenseitig etwas auf, bzw. es ist anzunehmen, dass sie in Wechselwirkung zueinander stehen
  • klassisch wurde Federung nur als „Bequemlichkeit“ gewertet, jedoch geht es nicht nur ausschließlich darum auf langer Fahrt „frischer“ zu sein; wenn ein Reifen stark auf und ab hüpft, dann wirkt mehr Kraft in die falsche Richtung bzw. wird in Reibung am Körper abgefedert und man verliert Energie im Vortrieb
  • der Untergrund entscheidet über die optimale Breite des Reifens, wobei auch frischer Asphalt nicht perfekt ist und es plausibel ist, dass 28mm oder gar 32mm Reifen besser abrollen können; wo genau der Break-Even-Point zwischen den verschiedenen Effekten liegt ist nicht universell zu beantworten

Bedeutet für euch: Traut euch mehr Breite!

Weitere Effekte:

  • Aerodynamik spielt ebenfalls eine Rolle und nimmt als Luftverdrängung je Größe des Reifens exponentiell zu. Diese würde zusätzlich als Energieverlust hinzukommen. Der Einfachheit halber wurde dies aber hier nicht zusätzlich betrachtet. Man kann aber annehmen, dass mit steigender Geschwindigkeit und größeren Reifen der Widerstand höher ist. Somit spielt die Reifengröße auch hier eine erhebliche Rolle.
  • Ermüdung: Die Durchschnittsgeschwindigkeit bei Ultra-Distanz-Rennen (250km+ am Tag) liegen deutlich unterhalb der 30km/h. Hier rückt die Aerodynamik in den Hintergrund und man profitiert von einer besseren Federung durch breite Reifen. Gerade für diese „Randsportart“ gilt: mehr Breite wagen! Gilt aber natürlich auch für Jedermann der lange Touren fahren möchte 😉

Quellen und Material zum selbst recherchieren:

Bicycle Quarterly Ausgaben zu Fahrradreifen-Studien:

  • No. 31 (2010)
  • No. 36 (2011)
  • No. 43 (2013)
  • No. 58 (2016)

Cycling Tips Nerd Alert Podcast – Interview mit Continental Produktmanager

Antritt Podcast Okt 2019 – Im Gespräch mit Jan Heine

RoadBIKE Magazin – 2016 Nr.11

Eure Erfahrung

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